26. August 2025

Sandra Fuhrer dachte nie, dass sie Handbikerin werden, geschweige denn eine WM-Medaille gewinnen würde. Doch die 38-jährige Glarnerin überrascht an der Heim-WM in Zürich alle. Eine Geschichte über eine wegweisende Begegnung und eine unerwartete Leidenschaft.

Als Sandra Fuhrer an diesem späteren Nachmittag im Sommer 2020 in ihr elektrisch unterstütztes Mountain-Handbike steigt, will sie mit ihrem Partner einfach eine schöne Runde drehen. Der nördlichen Seite des Thunersees entlang, wie sie es gerne machen, wenn es das Wetter zulässt. Dass eine Begegnung ihr Leben in eine ganz neue Richtung lenken könnte, denkt die damals 34-Jährige keine Sekunde. Doch als das Duo in Heiligenschwendi angekommen ist, trifft es auf einen anderen Handbiker, der allerdings kein Mountainbike fährt, sondern sich auf seinem Strassenvelo in liegender Position deutlich näher am Boden fortbewegt als Fuhrer. Sie hat im Internet auch schon zu solchen Bikes recherchiert, weiss aber doch nicht genau, wie sie vorgehen sollte, um sich selbst eines anzuschaffen. Ihr Partner ruft dem Handbiker nach, er solle doch kurz warten.

Es ist Fabian Recher. Der Spiezer Nationalkaderathlet entscheidet sich an diesem Abend aus einer Laune heraus, seine Trainingskilometer mal auf der anderen Seeseite abzuspulen. Und so steht er in Heiligenschwendi am Strassenrand und erzählt Fuhrer alles über sein Handbike. Die beiden tauschen ihre Nummern aus, und Recher ermuntert Fuhrer beim in Kürze stattfindenden Gurnigelclassic vorbeizukommen. Schliesslich seien dort auch einige Handbiker am Start, und sie könne sich nach dem Rennen in verschiedene Modelle setzen, um ein erstes Gefühl für so ein Handbike zu bekommen. Fuhrer nimmt die Möglichkeit wahr und findet dadurch eine Leidenschaft, die sie sich zuvor nie hätte vorstellen können.

Die Balance zwischen Sport und Arbeit

Die Glarnerin wächst in Elm auf. Skifahren liegt in der Familie hoch im Kurs. Ihre Schwester Kathrin wird zur Weltcup-Fahrerin, bis sie Knieprobleme dazu zwingen, einen neuen Weg einzuschlagen. Heute gehört sie im E-Cycling zur Weltspitze. Auch Sandra ist gern in den Bergen unterwegs und macht Touren. Sportlich ist ihre Schwester aber ambitionierter, während ihr wichtig ist, auch “etwas für den Kopf” zu haben. Das ist auch heute noch so. Fuhrer könnte sich im Moment nicht vorstellen, voll auf den Sport zu setzen und nebenbei keiner Arbeit nachzugehen. Beim Schweizer Bergführerverband arbeitet sie in einem Teilzeitpensum auf der Geschäftsstelle in Bern und kümmert sich unter anderem um administrative Dinge wie die Anmeldungen zu Kursen. “Dieser Ausgleich ist für mich mega wichtig”, sagt Fuhrer, die seit einem Bergunfall 2014 querschnittgelähmt ist.

Sie sitzt am Karfreitagnachmittag am Küchentisch in ihrem Haus in Goldiwil oberhalb von Thun und erzählt von der Begegnung mit Recher, ihren ersten Testrunden in einem Handbike, ihrem ersten Rennen in Kiesen an Ostern 2022. Damals arbeitet sie seit ein paar Monaten mit Sandra Graf zusammen, die ihr Training strukturiert. Die Appenzellerin gehörte zu Aktivzeiten zu den besten Handbikerinnen der Welt, gewann paralympisches Gold in London 2012, zahlreiche Medaillen bei Weltmeisterschaften und mehrmals den Gesamtweltcup.

Von der Zusammenarbeit erhofft sich Fuhrer, gezielter Fortschritte machen zu können und ihr Niveau kontinuierlich zu steigern. Die Heim-WM in Zürich im September 2024 ist da höchstens am Rand ein Thema, zumal sich Fuhrer zu diesem Zeitpunkt noch wenig auf internationaler Bühne hat präsentieren können. Doch in dieser Geschichte, in der Zufall und glückliche Fügungen eine tragende Rolle einnehmen, sollte genau diese Para-Cycling-WM der Wettkampf werden, bei dem die Glarnerin plötzlich alle überrascht - auch sich selbst.

Der Bonus der Einheimischen

Eigentlich sollte Fuhrer beim Grossanlass gar nicht am Start stehen. Mit ihren zwei Ergebnissen im Weltcup und einem 10. Rang als Bestresultat erfüllt sie die sportlichen Selektionskriterien für einen WM-Start nicht. Da der Schweiz als Gastgebernation aber zusätzliche Startplätze zugestanden werden, ist sie doch Teil des Aufgebots von Swiss Paralympic. Im Zeitfahren wird sie Neunte von zehn Gestarteten und ist damit sehr zufrieden, fürs Strassenrennen setzt sie sich einen Rang in den Top-8 als Ziel. Das verpasst sie deutlich - im positiven Sinn. Fuhrer fährt nämlich als Dritte über die Ziellinie am Zürcher Sechseläutenplatz.

“Das hat mich schon geflasht”, sagt Fuhrer, die sich und ihrem Umfeld mit dem Exploit nicht nur unerwartete Glücksgefühle beschert, sondern bei Organisatoren und Verband für Bewegung sorgt. Zwar gibt es Materialien zu ihr, diese müssen den Medienschaffenden jedoch erst extra zur Verfügung gestellt werden, und neben der Medaillenzeremonie hat Fuhrer nun auch noch einen Auftritt im Veloclub des Schweizer Fernsehens.

Sandra Graf sagt, sie habe daran geglaubt, dass Fuhrer eine Medaille holen könnte. Weshalb? “Weil sie über gute körperliche Voraussetzungen verfügt und sehr akribisch arbeitet.” Zwischen 10 und 12 Stunden verbringt Fuhrer pro Woche auf ihrem Velo, manchmal auch in Begleitung ihrer Trainerin, zudem ist sie zweimal im Kraftraum. Das Training ist aufbauend organisiert. Innert dreier Wochen wird die Intensität kontinuierlich gesteigert. Ist ein solcher Zyklus zu Ende, folgt eine Erholungswoche. “Von Sandras Erfahrung kann ich enorm profitieren”, sagt Fuhrer.

An diesem Freitag steht noch eine Ausfahrt Richtung Grosshöchstetten auf dem Trainingsplan.

Seit zehn Jahren wohnt sie mit ihrem Partner nun in Goldiwil. Fuhrer hat nicht nur ein atemberaubendes Bergpanorama vor der Fensterfront des Wohnzimmers, sondern auch perfekte Trainingsbedingungen direkt vor der Haustür. “Maximal gerne”, sei sie im Stockental unterwegs, sagt Fuhrer. Weil es sehr abwechslungsreich sei, mal hügeliger, mal flacher. Im Glarnerland gebe es nur eine Strasse in jede Richtung. “Wahrscheinlich hätte ich es da dann schon irgendwann gesehen”, sagt Fuhrer und lacht.

Die Reife der Newcomerin

Neben Graf ist mit Mathias Frank auch der Nationaltrainer in regelmässigem Austausch mit seiner Athletin, vorab auch während der Kaderzusammenzüge und Trainingslager. Der frühere Radprofi amtete an der WM in Zürich als Rennleiter im Para-Cycling, im letzten Oktober wurde er schliesslich zum Nationalcoach ernannt. Auch er erwähnt, dass Fuhrer mit ihrem Körper prädestiniert sei für diesen Sport. “Aber”, gibt Frank zu bedenken, “sie ist ein ungeschliffener Diamant und hat noch viel Potenzial.”

Der 38-Jährige denkt etwa an Fuhrers Fähigkeiten als Rollerin. Auf flachen Streckenabschnitten verliere sie im Vergleich mit der Konkurrenz noch viel Zeit. Allerdings ist Frank auch wichtig zu betonen, dass seine Athletin erst seit drei Jahren wettkampfmässig in einem Handbike sitze und ein Aufbau kontinuierlich gemacht werden müsse. “Man kann nicht einfach mit 20 Stunden Training pro Woche einsteigen. Es braucht alles Zeit.” Insofern hat Frank für Fuhrer eher einen längerfristigen Zeithorizont im Auge. Die Paralympics 2028 in Los Angeles, zum Beispiel. “Ich bin sicher, dass sie dann eines unserer ganz heissen Eisen sein kann.”

Auch Fuhrer hat selbstredend den bedeutendsten Sportanlass der nächsten drei Jahre im Hinterkopf, aber ihr ist wichtig, nicht zu viel Energie und Gedanken dafür aufzuwenden, ob sie in der Stadt der Engel dann auch wirklich am Start stehen wird. “Natürlich wäre das der Hammer, aber es kann noch viel passieren bis dahin. Ich nehme lieber Schritt für Schritt.” Diese Zurückhaltung überrascht nicht, bezeichnet sie es doch als ihre Stärke, Resultate realistisch einordnen zu können und sich von ihren sportlichen Leistungen nicht als Person beeinflussen zu lassen. “Sandra bringt eine gewisse Reife mit und ist eine gestandene Athletin”, sagt Frank.

Es ist keine überraschende Aussage über eine bald 39-jährige Handbikerin. In Anbetracht ihrer kurzen Zeit in diesem Sport ist aber bemerkenswert, was Fuhrer erreicht hat. Nach ihrer WM-Bronzemedaille wurde sie im letzten Dezember an der Swiss Paralympic Night als Newcomerin des Jahres ausgezeichnet.

In dieser Saison geht es darum, die Leistungen zu bestätigen. Und weil die Resultate nicht in die Qualifikation für die Paralympics miteinfliessen, hat Fuhrer mit ihrem Team etwas Luft, Dinge auszuprobieren. Sie mache sich immer mehr Gedanken zu ihrem Material, sagt sie. Mithilfe eines 3D-Druckverfahrens entwickelt sie derzeit neue Griffe für ihr Handbike. Zur WM Ende August im belgischen Ronse sollten diese fertig sein.

Wobei: Dass Fuhrer auch mit ihrem jetzigen Setup mit den Besten mithalten kann, hat sie in dieser jungen Saison bereits gezeigt. Anfang Mai feierte Fuhrer in Ostende zum Weltcupauftakt ihren ersten Sieg im Strassenrennen. Notabene auf einer flachen Strecke. Für Trainerin Graf ist klar: “Sandra ist in der Weltspitze angekommen.”

 

Autor: Simon Scheidegger

Sportlerin, das Schweizer Magazin für den Frauensport

 

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