Improvisiert bis an die Weltspitze

Als Flurina Rigling ihre ersten Runden auf einem Bahnvelo dreht, findet sie es “grässlich”. Heute gehört die 28-jährige Zürcherin auf Bahn und Strasse zu den Besten der Welt. Eine Geschichte über Durchhaltewille, Improvisation und den konstanten Drang zur Optimierung.
Flurina Rigling sitzt auf dem Beton des Zürcher Sechseläuten Platzes. Ihren Helm hat sie ausgezogen, die Getränkeflasche neben den Helm vor sich hingestellt. Rigling hebt beide Arme in die Höhe und setzt mit geschlossenen Augen zum Jubelschrei an. Denn wenige Augenblicke zuvor hat sich die 28-Jährige den Titel im Zeitfahren geholt, an der Heim-WM, dem Grossanlass vor ihrer Haustüre, der in ihrer Agenda dick angestrichen war, seit bekannt wurde, dass Zürich Austragungsort sein würde.
Es ist ein Ausbruch der Emotionen, der vielleicht im Ansatz erahnen lässt, welcher Weg dahinter steckt, dass Rigling zu einer der besten Athletinnen im Para-Cycling geworden ist. Ein Weg, der sie zur 20-fachen WM-Medaillengewinnerin gemacht hat auf der Bahn und der Strasse, zur sechsfachen Weltmeisterin, zur Weltrekordhalterin und zur zweifachen Gewinnerin paralympischer Medaillen.
Pedalen statt Plaudern
Es ist ein Weg, an dessen Anfang ein Besuch steht. Im Sommer 2019 geht Dany Hirs zu Flurina Rigling nach Hause nach Hedingen, das Dorf an der Grenze zum Kanton Aargau, wo sie aufgewachsen ist und noch heute lebt. Hirs ist der Nationaltrainer im Para-Cycling, und als sich Rigling bei Hirs’ Arbeitgeber PluSport meldet und sagt, sie würde gern einmal Radsport ausprobieren, macht sich Hirs quasi umgehend auf den Weg.
Im Gepäck hat er drei Velos mit unterschiedlichen Schaltungen, da er nicht abschätzen kann, welche davon für Riglings Voraussetzungen am besten geeignet sein würde. Der Zürcherin fehlen an Händen und Füssen je vier Finger und Zehen. Entsprechend ist eine Herausforderung, die sich den beiden bei ihren gemeinsamen Ausfahrten stellt, eine Sitzposition zu finden, in der Rigling stabil und sicher fahren kann. Eigentlich, sagt Hirs, habe er gedacht, sie könnten sich dann während der Fahrt unterhalten, doch Rigling setzt auf dem Rad so ein Tempo an, dass der Nationaltrainer seinen Atem fürs Pedalen statt fürs Plaudern einsetzen muss.
Es ist eine Episode, die belegt, dass es von Anfang an gut gepasst hat zwischen der Athletin und dem Para-Cycling. Auch wenn sie von Hirs immer mal wieder ins kalte Wasser geworfen wird, wie es Rigling selbst nennt. Wie damals bei ihrer Premiere auf der Bahn in Grenchen. Hirs setzt seine Athletin auf ein unangepasstes Bahnvelo. Da Klickpedale fehlen, muss sie immer wieder aufpassen, dass die Füsse nicht abrutschen. Rigling denkt: “Was mache ich hier?” und findet es gar nicht spassig, im Velodrome ihre Runden zu drehen - aber sie beisst sich durch.
Setup: Giesskanne
Rigling sitzt an einem herbstlichen Dienstag Ende Oktober in einem Café am Zürcher Hauptbahnhof, als sie auf ihre Anfänge zurückblickt. Ihre Erfolge an der WM, an der sie vier Tage nach dem Sieg im Zeitfahren auch im Strassenrennen Gold holte, sind da einen knappen Monat her. Rigling erzählt von einer grossen Müdigkeit, physisch, aber auch mental, die sie nach diesem Höhepunkt zum Saisonabschluss gespürt habe. Aber eigentlich, sagt sie mit einem Lächeln, sei ihr Leben jetzt in der Offseason beinahe stressiger als während der Saison - weil sie von Termin zu Termin eilt und viele etwas von ihr wollen. Zum Beispiel wissen, wie das eben war, damals in Grenchen bei den ersten Bahnrunden.
“Ich fand es grässlich”, sagt Rigling. Aber, und das wird im Gespräch mit der Athletin immer wieder deutlich, solche Gefühle hindern sie nicht daran, weiterzumachen. Denn sie ist es sich gewohnt aus ihrem Alltag, zu improvisieren und Lösungen zu finden, wenn etwas nicht auf Anhieb funktioniert. Das gilt für das Messer, das ihr Vater entworfen hat, für ihre Schuhe, die Massanfertigung sind. Riglings Improvisationstalent ist in allen Lebensbereichen gefordert. Und dieses hilft ihr eben auch als Sportlerin. Es sei wichtig, sagt Rigling, unangenehme Situationen auszuhalten. “Wenn ich immer alles über den Haufen werfen würde, wenn etwas nicht klappt, würde ich überhaupt nichts machen.”
Sie erzählt von ihrer WM-Premiere im Juni 2021 im portugiesischen Cascais. In der Vorbereitung merkt Rigling, dass am Lenker ihres Velos etwas fehlt, worin sie ihre Hand abstützen könnte. Also lässt ihr Vater seine Kreativität walten und funktioniert den Übergang zum Rohr einer Giesskanne kurzerhand in ebenso eine Halterung für die Hand seiner Tochter um. Am Ende gewinnt Rigling mit dem Setup Giesskanne Bronze im Zeitfahren und Silber im Strassenrennen.
Leistungssport als Lebensstil
Es ist ein Moment, in dem Rigling und ihr Umfeld merken, wie viel Potenzial vorhanden ist, wenn schon nur das Material optimal auf die Athletin abgestimmt sein würde. Mittlerweile ist der Lenker ihres Strassenvelos eine Spezialanfertigung eines Studenten der ETH Zürich, der in stundenlanger Massarbeit zusammen mit Rigling einen Lenker entworfen hat, der nicht nur die Basisfunktion des Giesskannen-Haltegriffs erfüllt, sondern bequem und aerodynamisch ist, ihre Veloschuhe kommen seit kurzem aus dem 3-D-Drucker, was die Produktionszeit von zuvor mehreren Monaten signifikant verkürzt, und auf der Bahn ist das Schweizer Para-Cycling-Team mit Velos unterwegs, die einst bei Olympischen Spielen im Einsatz standen.
Der Blick auf das Material illustriert, welche rasante Entwicklung der Sport in den letzten Jahren durchgemacht hat. Nationaltrainer Hirs formuliert es so: “Para-Cycling ist zur Formel 1 geworden.” Umso erstaunlicher scheint es deshalb, dass sich eine Athletin innert nur fünf Jahren in der Weltspitze etabliert und meistens zu den Favoritinnen zählt, wenn sie an einer Startlinie steht. Zumindest für Aussenstehende erstaunlich. Rigling, die aus einer Ruderer-Familie stammt, sagt, sie sei schon vor ihrem Einstieg ins Para-Cycling sportlich gewesen, habe viel Ausdauersport gemacht und entsprechend über eine gute Grundfitness verfügt. “Ich habe schon lange vorher viel investiert.”
Weil sie schon länger mit dem Gedanken spielte, Leistungssport zu betreiben. Für Rigling ist ihr Dasein als Para-Cyclerin nicht einfach eine Leidenschaft, sondern ein Lebensstil, wie sie es nennt. Klar, sei es nicht nur spassig, in einem Höhentrainingslager an seine Grenzen zu gehen. Klar, sei es mühsam, wenn sie zusammen mit ihrem Mechaniker mehrere Stunden versuche, etwas an ihrem Velo zu optimieren und sie trotzdem nicht weiter kämen. Aber: “Genau das habe ich gesucht. Ich möchte den Leistungssport leben.”
Sie mag es, die Trainingspläne durchzuarbeiten, die ihr persönlicher Trainer Michael Pleus für sie seit Anfang zusammenstellt, sie mag es, auf ihre Ernährung und ihren Schlaf zu achten, sie mag es, Leistungen aus Trainings und Rennen zusammen mit den Coaches bis ins Detail zu analysieren und nach Optimierungsmöglichkeiten zu suchen. Und sie mag es, am Material herumzutüfteln und dadurch vielleicht entscheidende Hundertstelsekunden herauszuholen. Ob sie in einem Rennen auf dem Podest steht oder nicht, ist dabei nicht ihr primärer Fokus, sondern vielmehr Belohnung für erfolgreiche Arbeit. “Es geht um den ganzen Prozess. Dieser fasziniert mich. Wenn am Ende dabei eine Medaille herausschaut, ist das umso schöner”, sagt Rigling, die betont, dass sie nie das Gefühl habe, auf irgendetwas verzichten zu müssen. “Vielleicht bin ich deshalb erfolgreich.”
Mit neuen Reizen in die Übergangssaison
Nationaltrainer Hirs bezeichnet seine Athletin als “Musterschülerin”, die sehr zielstrebig sei und einen Plan immer durchziehe, sobald er gefasst sei. Scott Bugden, der Hirs im Nationalkader als Co-Trainer unterstützt, sagt, Rigling verfüge über exzellente Eigenwahrnehmung und sei sehr offen dafür, neue Dinge auszuprobieren. Der Brite erzählt von einem Weltcup-Rennen in den USA, vor dem er seiner Athletin riet, den Gegnerinnen einmal die Führungsarbeit zu überlassen. Schliesslich hatte die Schweizerin am meisten Reserven und holte den Sieg.
Nach den Paralympics in Paris, wo Rigling in der Einzelverfolgung auf der Bahn Bronze holte, im Strassenrennen Silber und im Zeitfahren eine Medaille nur um drei Zehntelsekunden verpasste, sprach Bugden mit Rigling schon über die kommende Saison, und die beiden vereinbarten, dass die Athletin 2025 versuchen werde, aggressiver zu fahren. Als sie dann in Zürich am Start des WM-Strassenrennens stand, dachten die beiden, sie könne es ja schon jetzt mit dieser Taktik versuchen. Der Plan ging bekanntlich auf. “Sie ist sich eigentlich schon einen Schritt voraus”, sagt Bugden und lacht.
2025 ist insofern ein spezielles Jahr, als die Resultate nicht für die Qualifikation der Paralympics 2028 in Los Angeles relevant sind. Das gibt Flurina Rigling und ihrem Team die Möglichkeit, bezüglich Material, Trainingsmethodik und Rennkalender Dinge auszuprobieren. “Wenn etwas klappt, ist es toll. Wenn nicht, haben wir mehr Informationen, die uns weiterhelfen”, sagt Bugden.
Der Ehrgeiz, nach dieser äusserst erfolgreichen Saison mit fünf WM- und zwei paralympischen Medaillen, sich weiter zu verbessern, ist ungebrochen. “Ich kann noch viel optimieren”, sagt sie. “Und das muss ich auch. Es darf sich nie zu bequem anfühlen.” Unbequem könnte es also auch für die Gegnerinnen werden.
Das Hoch soll lange anhalten
Das Schweizer Para-Cycling-Team erlebt gerade eine äusserst erfolgreiche Phase. Neben Flurina Rigling holten an den Paralympics in Paris nämlich auch die Genferin Celine van Till (zweimal Silber) und die Appenzellerin Franziska Matile-Dörig (Bronze im Zeitfahren) Medaillen in ihren Kategorien. In Zürich krönte sich dann jede aus dem Trio mindestens einmal zur Weltmeisterin. Es ist ein Hoch, wie es die Para-Cycling-Szene hierzulande noch nie erlebt hat. Was natürlich auch den Nationaltrainer freut. Dany Hirs ist seit 1981 im Radsport aktiv und hat 2015 das Para-Cycling-Team mit aufgebaut. Aus einer kleinen Gruppe ist mittlerweile ein Team aus rund 40 Athletinnen und Athleten geworden.
Die meisten von ihnen haben sich wie Flurina Rigling irgendwann mit PluSport in Verbindung gesetzt und mit Dany Hirs ein Probetraining gemacht. Hirs war früher selbst Radprofi und verfügt dank seiner langjährigen Erfahrung über ein exzellentes Gespür für Potenzial. Und so ist eben dieses Team stetig grösser geworden und die Generation herangewachsen, die für die Schweiz an den bedeutendsten Grossanlässen regelmässig Medaillen holt.
Angestellt ist Hirs in einem Pensum von 60 Prozent. Doch die Arbeit geht ihm nie aus. Denn er ist immer auf der Suche nach möglichen Athletinnen und Athleten. Nach der WM in Zürich meldeten sich elf Personen bei ihm, die daran interessiert waren, Para-Cycling auszuprobieren. Die Probetrainings hat Hirs schon durchgeführt und hofft nun, dass sich der eine oder die andere dafür entscheidet, den Sport weiter zu betreiben. “Viele Menschen mit Behinderung wissen gar nicht, dass es diese Möglichkeiten gibt”, sagt Hirs. Genau deshalb sei es wichtig, den Sport wie während der Paralympics oder der WM einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen.
Damit die potenziellen Nachfolgerinnen von Rigling, van Till und Matile-Dörig die Chance bekommen, sich auf der sportlichen Bühne zu zeigen. Und das Hoch noch lange anhält.
Autor: Simon Scheidegger
Sportlerin, das Schweizer Magazin für den Frauensport


