22. Januar 2022

Die beiden Baslerinnen Ellen Walther und Romy Tschopp erfüllen sich ihren Traum vom Snowboarden,
obwohl sie ihren Alltag im Rollstuhl verbringen. In Lillehammer haben sie erstmals an einer Para-WM teilgenommen und reisten mit Bronze zurück in die Schweiz.

Was für ein Bild, was für eine Geschichte. Die beiden Schweizer Snowboarderinnen Ellen Walther und Romy Tschopp stehen am legendären Olympiahang Hafjell nahe Lillehammer. Sie umarmen sich, die Welt um sie herum ist für einen Moment nur ihre Welt. Walther hat eine Bronzemedaille um den Hals, sie kann die Gefühle noch eine ganze Weile nicht begreifen. Tschopp hat in ihrer Klasse am Finaltag zwei ganz starke Auftritte gezeigt. Aber in diesem Moment geht es nicht um Medaillen oder die gute Kurvenlage, es geht um viel mehr. Es geht um das Leben.

Um das Leben zweier Frauen, die im Rollstuhl sitzen. Die eine, Tschopp, seit einigen Jahren, Walther nach einem Sturz mit dem Snowboard seit zwei Jahren. Beide haben einen Weg der Mühen und Erfolge, der Niederlagen und der Triumphe angetreten, der sie gerade jetzt einmal nach oben gebracht hat. Auf den Hafjelltoppen in Mittelnorwegen, am Hang gegenüber läuft in einer riesigen Waldschneise immer noch der Fackelläufer von 1994. Nationalcoach Silvan Hofer ist mit dabei, Physiotherapeutin Nadja Hartmann, Teamkollege Aron Fahrni. “Vor drei Jahren haben wir begonnen, das Team aufzubauen”, sagt Hofer, “jetzt sind wir hier.”

Mitten drin Tschopp und Walther. Sitzt man drei Tage später mit ihnen am Tisch im Teamhotel, ist sofort wieder dieser Geist zu spüren, der das gesamte Team auszeichnet, diese starke Lebensfreude. Begonnen hat es für sie als Duo in der Nordwestschweiz, Tschopp kommt aus Sissach BL, Walther aus Basel-Stadt. Sie waren beide zur gleichen Zeit in der dortigen Rehaklinik REHAB, kannten sich flüchtig von der Rumpf-Kraft-Gruppe. “Für mich kam der Moment, in dem ich meine Physio fragte, wie ich wieder zum Snowboarden kommen kann”, erzählt Walther, sie wollte sich davon nicht einfach verabschieden. Diese gab ihr Tschopps Telefonnummer, und damit begann eine gemeinsame Geschichte im Spitzensport. Tschopp war “um jeden Fahrerin froh, die dazu kam”, sagt sie heute lachend. Sie selbst war da bereits ein Jahr dabei, sie fand den Weg via Plusport zu Hofer, als sie in einer ihrer vielen Rehaphasen körperlich sehr viel verloren hatte. “Ich brauchte ein Ziel, einen Inhalt, ich fragte mich, was mich mit Leidenschaft erfüllt.” Die Antwort? Snowboarden.

Hier in Lillehammer haben Tschopp und Walther nicht nur als WM-Neulinge eine spezielle Geschichte, sind in der gesamten Frauenkonkurrenz im Snowboard auch die einzigen, die im Alltag im Rollstuhl sitzen. Wer die Startvorbereitungen beobachtet, sieht den Unterschied, die beiden Schweizerinnen brauchen mehr Hilfe, sie sind auf der Strecke mehr eingeschränkt. “Vor allem aber brauchen Ellen und Romy viel mehr Energie”, sagt Physiotherapeutin Hartmann, da ist jedes Rennen eine neue Herausforderung, jeder zusätzliche Lauf ein Kampf von oben bis unten. Umso wichtiger und schöner, dass die Veranstalter bei der WM helfen und die beiden jeweils mit dem Skidoo zum Start bringen, weil ein Tellerlift schlicht nicht geht.

Es ist insgesamt ein Kampf, aber einer, den Tschopp und Walther gerne auf sich nehmen. Sie fühlen sich wohl im internationalen Kreis der Parasportlerinnen, wo eben alle wissen, was jede Einzelne leistet. Sie freuen sich über das Herzblut, das Nationalcoach Hofer einbringt; über Physio Nadja Hartmann, “die ein Problem oft schon sieht, bevor ich es sehe”, wie Walther mit einem Strahlen im Gesicht sagt, “und dann eine ganze Reihe von Lösungen präsentiert.” Sie wissen mittlerweile beide gut, wie sehr ihnen jede Trainingseinheit, jeder Balanceakt auf dem Brett hilft, im Alltag noch ein bisschen besser zurecht zu kommen.

Apropos Alltag. Wie sieht es für Menschen mit Behinderung da aus in der Schweiz? Tschopp und Walther erzählen Geschichten, die ungläubig staunen lassen. Von Menschen, die Hilfe anbieten, aber selbst ein doppeltes Nein nicht akzeptieren, dabei können beide sehr gut allein in eine Tram einsteigen. Von Leuten, die sie als Simulantinnen beschimpfen, weil sie doch tatsächlich aufstehen und eine bestimmte Strecke laufen können. Andere drücken ihnen im Vorbeigehen einfach mal ein Joghurt oder Glacé in die Hand, am besten mit einem mitleidigen Gesichtsausdruck. “Aber”, sagt Tschopp, und das ist ihr wichtig, “wir kennen das alle: In Erinnerung bleiben die sehr wenigen unangenehmen Momente, dass die weitaus meisten Erfahrungen gut sind, geht leider schneller vergessen.”

Und dann gibt es noch Behörden, die nicht akzeptieren können, dass eine Frau im Rollstuhl nicht einfach in einen Bürojob abgeschoben werden will. Da haben sich beide durchgesetzt, Tschopp hat ihre Ausbildung zur Fachfrau Bewegung- und Gesundheitsförderung in einem Fitnessstudio abgeschlossen, Walther bewirbt sich um die Aufnahme in eine Schauspielschule. “Die Menschen können uns gerne alles fragen”, sagen sie, “aber sie sollen unsere Antworten, Wünsche, Pläne akzeptieren.”

Zurück in Lillehammer, wo die beiden Nordwestschweizerinnen gerade einen Höhepunkt erleben. Als Ellen Walther zur Siegerehrung geht, stützt sie sich auf einen Stock mit einer eigenen Geschichte. Er gehörte ihrem verstorbenen Grossvater, “sein Daumenabdruck ist immer noch zu spüren”, sagt Walther und bewegt dabei ihren Daumen. Erinnerungen sind wichtig, sie helfen auf dem Lebensweg, können die Richtung vorgeben, um die eigenen Geschichten zu schreiben.

 

 

Text: Christian Andiel, veröffentlicht am 19. Januar 2022 in der BaslerZeitung.

Fotos: Goran Basic

 

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